Martin Schulte, Mitarbeiter im Gemeinsamen Pastoralen Amt der Evangelischen Kirchengemeinde, leitet ins Thema mit einigen Statistiken und Begriffsklärungen ein: So ist die Zahl der Suizide in Deutschland seit den 80er Jahren langsam rückläufig. Rund 9000 Menschen nehmen sich pro Jahr das Leben. Darunter sind weit mehr Männer als Frauen und vor allem ältere Menschen. 90% der Suizide werden von Menschen mit psychischen Vorerkrankungen verübt. Anlass zur aktuellen Debatte ist ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26.2.2020, wonach zum Grundrecht auf selbstbestimmtes Leben auch ein selbstbestimmtes Sterben gehöre.
Zwei Paragrafen des Strafgesetzbuches sind einschlägig: §216 StG definiert die sogenannte aktive Sterbehilfe, also die Tötung auf Verlangen als strafbar. §217 StG hält hingegen fest, dass Hilfestellung zum Suizid durch Angehörige oder andere nicht geschäftsmäßig tätige Dritte zulässig und nicht strafbar ist, sofern der Sterbewillige frei verantwortlich und eigenhändig handelt.
Der Entscheid des Bundesverfassungsgerichts fordert vom Gesetzgeber eine klarere rechtliche Grundlage für den assistierten Suizid. Aktuell stehen drei Gesetzentwürfe im Raum, deren konservativster von der Trierer Bundestagsabgeordneten Corinna Rüffer (Grüne) maßgeblich mitverfasst wurde.
Standpunkte vom Podium
Nach dieser Einführung ins Thema gingen die vier Expert*innen des Podiums aus ihrem je eigenen Blickwinkel in die Tiefe.
Prof. Ingo Proft, katholischer Ethiker an der hiesigen Theologischen Fakultät, betonte, dass Suizidalität nie nach einem einfachen, festen Schema behandelt werden könne, es aber gleichzeitig sichere Rahmenbedingungen für damit Umgehende (Angehörige, Ärzt*innen, Pflegepersonal) geben müsse. Prof. Proft beleuchtete insbesondere die Frage nach der Autonomie des Individuums bei der Entscheidung für einen Suizid. Wie frei in ihrem Willen sind z.B. Suchtkranke? Führt eine einmal getroffene Entscheidung automatisch zur Dienstleistung der Suizidassistenz? Später in der Diskussion formulierte er: „Autonomie ist eine Illusion.“ Er stellte in Frage, ob das Recht auf assistierten Suizid eine Pflicht für Institutionen beinhalte, diese auch anzubieten und forderte diesbezüglich Transparenz bereits bei der Aufnahme in ein Krankenhaus, Hospiz oder Pflegeheim.
Als nächstes stellte Simin Namini, Richterin am Sozialgericht Trier, ihre juristische Sichtweise dar. Die Entscheidung von 2020 sei im juristischen Rahmen kein solcher Dammbruch, wie er in der Debatte mitunter dargestellt würde. Suizid als solcher war schon lange vorher nicht mehr strafbar. Das Bundesverfassungsgericht hatte bei seinem Urteil betont, dass der Schutz des Lebens weiterhin vornehmliche Aufgabe des Staates sei. Auch Namini konzentrierte sich auf die die Frage nach der freien Verantwortlichkeit der Sterbewilligen, die für straffreie Suizidassistenz Voraussetzung ist. Juristisch seien hier Minderjährige, Menschen mit Behinderungen sowie Menschen mit Suchterkrankungen und anderen psychischen Erkrankungen ausgeschlossen, ebenso Suizide aus einer Augenblicksstimmung. Somit sei die Mehrheit der statistischen Suizidfälle gar nicht abgedeckt.
Namini forderte eine größere Rechtssicherheit bei der schwierigen Abgrenzung von Suizidassistenz und Tötung auf Verlangen, insbesondere dann, wenn Menschen aufgrund ihrer Erkrankung zwar frei-verantwortlich entscheiden können, aber körperlich nicht in der Lage sind, den Suizid durchzuführen.
Dr. Walter Gradel, niedergelassener Internist und Palliativmediziner, gab aus seiner langjährigen Berufserfahrung Einblick in seine Sicht aufs Thema. Die Frage nach Suizidassistenz von Schwerkranken sei seltener, als man nach der gesellschaftlichen Debatte annehmen könnte. In 19 Jahren Praxis sei sie ihm lediglich zweimal begegnet. Das liege daran, dass die Entscheidung zum Suizid in aller Regel kurzfristig fällt. Dr. Gradel empfindet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als von wenigen Menschen forciert, sieht aber Kopfzerbrechen voraus für viele, die damit umgehen müssen, voraus. Er fragte vor allem danach, wer denn die Suizidassistenz leisten solle. Für Ärzte, an die an dieser Stelle zuerst gedacht werde, sei das berufsrechtliche Verbot der Hilfestellung bereits gestrichen, diese aber bewusst nicht als ärztliche Aufgabe definiert worden. Gradel begrüßt verstärkte Suzidprävention, sorgt sich aber darum, wie diese gelingen kann, wenn die medizinische und vor allem pflegerische Betreuung in Zukunft kaum noch zufriedenstellend bereitgestellt werden kann.
Als Klinikoberin ist Elke Kirsch für ethische Fragestellungen im Klinikum Mutterhaus zuständig. Sie sieht ihr Haus, wie alle kirchlichen Einrichtungen, vor neue Fragen gestellt. Sie versteht die katholischen Träger für Krankenhäuser als Lobbyisten für das Leben von vor der Geburt bis an den Tod und betont die Kostbarkeit des Lebens. Kirsch plädiert für den Ausbau palliativer Möglichkeiten und der Information darüber. Nach ihrer Erfahrung wüssten viele Menschen gar nicht darüber Bescheid, würden aber durchs Aufzeigen dieser Optionen neue Perspektiven für ein würdevolles Lebensende finden und zumeist annehmen. Sie wehrt sich gegen ein aktives Hinführen zu einer Entscheidung zum Suizid, sondern sieht einen Vorrang des Lebens. Gleichzeitig müsse man auch in einem christlichen Haus die Entscheidung für einen Suizid respektieren und in Würde ermöglichen.
In den vier Statements wurde ersichtlich, was Thomas Kupczik bereits bei der Begrüßung erklärt hatte: die Vier auf dem Podium standen weniger für kontroverse Positionen als für unterschiedliche Perspektiven aufs Thema.
Intensive Debatte
Nach den Impulsen vom Podium wurde die Diskussion für die Teilnehmenden eröffnet. Schnell wurde deutlich, dass für viele Menschen das Thema emotional besetzt und mit persönlichen Ängsten oder Erfahrungen verknüpft ist. Während einige Diskutanten die Sorge äußerten, dass das Leben immer mehr unter Rechtfertigungsdruck gerate und Verschiebungen des gesellschaftlichen Konsenses befürchteten, setzten sich andere leidenschaftlich für einfachere und niedrigschwelligere Möglichkeiten ein, das eigene, nicht mehr als lebenswert empfundene, Leben zu beenden.
Berichte persönlicher Einzelschicksale machten diesen Wunsch sehr nachvollziehbar. Gleichzeitig zeigte die Diskussion, an der sich auch viele Fachleute aus der Palliativbewegung und Lebensberatung beteiligten, dass eine rechtliche Klärung der damit zusammenhängenden Fragen unglaublich schwierig ist.
So gingen dann auch nach der zweistündigen Veranstaltung die Diskussionen in kleinen Runden weiter. Die politische und gesellschaftliche Debatte ist bei weitem nicht abgeschlossen. Die Teilnehmenden des Ethik-Forums werden sie sicher interessiert verfolgen.